Impfungen und räumliche Distanzierung koordinieren – die Menschen mit den meisten Kontakten zuerst impfen
SARS-CoV-2-Ausbrüche auf lange Sicht mit mathematischer Optimierung verringern
Weltweit haben die meisten Länder mit den Impfungen gegen COVID-19 begonnen. Noch reichen die Produktionskapazitäten und die Logistik nicht aus, um über die Impfungen eine Herdenimmunität zu erreichen. Impfkampagnen und Kontaktbeschränkungen müssen auch in Anbetracht mutierter Virusvarianten oder möglicher weiterer Pandemiewellen optimal koordiniert werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Magdeburg und Ilmenau haben berechnet, dass die Menschen mit den meisten Kontakten, die 20- bis 60-Jährigen, zuerst geimpft werden sollten. So könnten auf lange Sicht die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung heruntergefahren werden, ohne das Gesundheitssystem zu überlasten.
Seit Beginn der Impfkampagne im Dezember 2020 haben weltweit die meisten Länder mit den Impfungen ihrer Bevölkerung gegen COVID-19 begonnen. Aufgrund der noch nicht ausreichenden Produktionskapazitäten und der logistischen Herausforderungen wird es noch Monate bis Jahre dauern, bis über die Impfungen eine Herdenimmunität erreicht ist. Aus diesem Grund müssen die Impfkampagnen und das social distancing, also das Reduzieren der sozialen Kontakte, weiter optimal koordiniert werden.
Jüngere Menschen impfen versus Kontaktbeschränkungen
Ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Dr. Sara Grundel am Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme Magdeburg und Prof. Dr. Thomas Hotz und Prof. Dr. Karl Worthmann an der TU Ilmenau hat herausgefunden, dass es sinnvoll wäre, diejenigen Menschen, die die meisten beruflichen und sozialen Kontakte haben und zu den maßgeblichen Überträgern des Virus zählen, also die 20- bis 60-Jährigen, zuerst zu impfen. So könnten auf lange Sicht mit einem Planungshorizont von acht Wochen bis zwei Jahren innerhalb des Modells die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung heruntergefahren werden, ohne das Gesundheitssystem mit intensivmedizinisch zu betreuenden Patienten zu überlasten.
Das Modell zeigt auch, dass durch eine Verlängerung der Kontaktbeschränkung andererseits die Auslastung der Krankenhäuser verringert würde. Die Simulationen im Modell zeigen, dass die Kontaktbeschränkungen ein halbes Jahr früher gelockert werden könnten, wenn zunächst die 20- bis 60-Jährigen geimpft werden.
Dagegen ist es für eine kurzfristige Planung weiterhin optimal, auf die Hochrisikogruppe 60+ zu fokussieren. Die Aussage des Modells ändert sich bei einem kurzen Planungshorizont von kürzer als acht Wochen. Dann wäre es günstiger, zuerst die Altersgruppe 60+ zu impfen. Doch diese Strategie führt, wie zu erwarten ist, langfristig zu mehr und vor allem zu länger anhaltenden Kontaktbeschränkungen.
Als Entscheidungsgrundlage für diese Koordinierung bieten sich mathematische Modelle an. Das Besondere daran: die Magdeburger und Ilmenauer Forscherinnen und Forscher lösen auf mathematischem Weg ein Optimierungsproblem, um die bestmögliche Steuerung zu erreichen. Zudem wird das Modell differenziert nach Altersgruppen berechnet.
Kontrolle, abgeleitet aus der Steuer- und Regelungstechnik
Für die Entscheidungsfindung erforschten sie zwei Fragestellungen als Teilaspekte in der Pandemie: die Auswirkungen des Planungszeitraums auf die optimale Impfungs- und die social distancing-Strategie. Social distancing sollte nur eingesetzt werden, wenn es zwingend erforderlich ist.
Die Kontrollstrategien, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anwenden, leiten sich aus der Regelungstechnik ab. Compartment-Modelle sind mathematische Modelle, mit denen beschrieben wird, wie Epidemien sich ausbreiten. Das Modell der prädiktiven Regelung für die Steuerung von Systemen wird bislang in technischen Geräten angewendet und ist unentbehrlich beim Autonomen Fahren. Die Compartment-Modelle werden mit Hilfe von Diagrammen dargestellt, die Rechtecke stellen dabei die einzelnen Felder bzw. Abteile dar. Der Ist-Zustand kann gemessen und die Zukunft durch ein dynamisches Modell berechnet werden, die Steuerung wird im Abgleich mit einem Ziel immer wieder neu implementiert.
Langfristige Berechnungen auf der Basis von Compartment-Modellen
Das grundlegende Modell, das die Mathematikerinnen und Mathematiker benutzen, basiert auf einem erweiterten SIR-Modell. Das endemische SIR-Modell (susceptible-infected-removed model) beschreibt allgemein die epidemiologische Ausbreitung von Infektionskrankheiten mit der Bildung von Immunität. Das Modell umfasst Personen mit dem Status Susceptible (S), das sind empfängliche, ansteckbare Personen, die noch nicht in Kontakt mit dem Virus gekommen sind, Infizierte (I) und aus dem Infektionsgeschehen entfernte Personen Recovered (R). Diese sind genesen oder verstorben.
Die Auflösung dieses Compartment-Modells ist nun feingliedriger gestaltet als die in 2020 verwendeten Modelle. Die beteiligten Wissenschaftler haben das Modell erweitert. Hinzu kommen Personen E, die dem Virus ausgesetzt waren (Exposed), und die infizierten Personen werden noch in schwere, milde oder asymptomatische Verläufe unterschieden. Auch ein gewisser Prozentsatz an geimpften Personen, die sich möglicherweise trotz Impfung noch infizieren, gehen in das Modell ein.
Das Modell ermöglicht es also mit Hilfe der Fülle von Parametern verschiedene Optimierungsziele zu berechnen.: zum einen die Krankenhäuser nicht zu überlasten und zum anderen social distancing nur wenn nötig einzusetzen. Insbesondere lässt sich das Modell immer wieder auf den aktuellen Stand anpassen. Dadurch können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit diesem Modell nicht nur eine einzige langfristige sondern mit dem jeweiligen aktuellen Wissen die bestmögliche Strategie für die nächsten drei, vier oder sechs Wochen berechnen. Damit ließen sich größere COVID-19–Ausbrüche zukünftig gut unter Kontrolle halten.
Für die Arbeit an dem erweiterten Modell kooperieren Mathematikerinnen und Mathematiker der Forschungsgruppe Numerische Methoden in der System- und Regelungstheorie am Max-Planck-Institut Magdeburg mit den Teams um Prof. Dr. Thomas Hotz, Fachgebiet Wahrscheinlichkeitsrechnung und mathematische Statistik, und Prof. Dr. Karl Worthmann, Fachgebiet Optimization-based Control, an der Technischen Universität Ilmenau.