Integrierter Material- und Prozessentwurf mit Künstlicher Intelligenz

Forschungsbericht (importiert) 2020 - Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme

Autoren
Teng Zhou, Zhen Song, Steffen Linke, Zhiwen Qi, Kai Sundmacher, Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme, Abteilung Prozesstechnik, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Lehrstuhl Systemverfahrenstechnik, Max-Planck Partnergruppe, East China University of Science and Technology, Shanghai
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme, Magdeburg
Zusammenfassung

Mittels modellgestützter Optimierung der Strukturen von Lösungsmitteln und Materialien können chemische Prozesse signifikant verbessert werden. Mit systematischen Screeningmethoden können toxische durch umweltfreundliche Hilfsstoffe ersetzt werden.

In den letzten Jahrzehnten wurden in der chemischen Prozesstechnik erhebliche Steigerungen der Produktivität durch optimierte Prozessgestaltung und durch Prozess­intensivierung erzielt. Um zukünftig nicht nur die Effizienz, sondern auch die Nachhaltig­keit chemischer Produktions­verfahren deutlich zu verbessern, müssen Energie­bedarf und CO2-Emissionen drastisch reduziert, fossile durch erneuerbare Rohstoffe ersetzt und Abfallstoffe möglichst gänzlich vermieden werden. Jedoch wird das Potenzial für Nachhaltigkeits­steigerungen begrenzt sein, wenn man sich bei der Neugestaltung chemischer Prozesse ausschließlich auf optimierte Betriebs­­bedingungen und neuartige Verschaltungsarten der Funktions­einheiten beschränkt.

Viel­mehr müssen die Strukturvariablen der eingesetzten Hilfsstoffe und Materialien (Lösungs­mittel, Extraktions­mittel, Adsorptions­mittel, Wärmespeichermaterialien usw.) als zusätzliche Freiheitsgrade der Prozess­ge­staltung betrachtet werden. Aufgrund vielschichtiger wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen den eingesetzten Hilfsstoffen und den Prozesszuständen sollte man den Material- und Prozessentwurf idealerweise in einem integrierten Gestaltungsansatz durchführen und dabei modell­gestützte Methoden einsetzen. Aus diesem Integrations­ansatz resultieren jedoch anspruchs­volle mathematische Optimierungsprobleme, bei denen mikroskopische Material­modelle mit makroskopischen Prozess­modellen verknüpft sind. Eine vielversprechende Option zur Lösung dieser Aufgabenstellung ist die Verwendung eines hybriden Modellierungs­konzepts (Abbildung 1).

Im Rahmen dieses Konzepts werden schnell auswertbare, auf experimentellen Daten basierende Modelle dazu verwendet, die prozessrelevanten thermodynamischen und kinetischen Eigenschaften der Hilfsstoffe und Materialien auf der Grundlage ihrer Strukturinformationen vorherzusagen. Diese Eigenschaften werden dann mit den mechanistischen Prozessmodellen (zum Beispiel Gleichgewichtsstufen) gekoppelt, um den integrierten Gesamtentwurf durchführen zu können. Dabei sind zuverlässige Daten für die Parametrisierung aller Teile des Gesamtmodells unerlässlich. In Fällen, in denen nur eine geringe Zahl von experimentellen Daten zu Verfügung steht, können computergenerierte Daten, zum Beispiel aus quantenchemischen oder molekulardynamischen Berech­nungen, ergänzt werden. Sobald die Parametrisie­rung der Stoffeigenschafts- und Prozessmodelle abgeschlossen ist, lassen sich die besten Hilfsstoffe und gleichzeitig die optimalen Prozessbedin­gungen identifizieren. Dies gelingt, indem ein  Optimierungs­problem mit dem Ziel gelöst wird, die technoökonomische Performance und/oder die Nachhaltigkeit des Prozesses unter Variation aller stofflichen und prozesstechnische Entscheidungsvariablen zu maximieren.

Handelt es sich bei den Hilfsstoffen um Fluide (beispielsweise konventionelle organische Lösungsmittel), die aus vergleichsweise einfachen Molekül­strukturen zusammengesetzt sind, so stehen auf Gruppen­beiträgen basierende Modelle für die Vorhersage der Stoffeigenschaften zur Verfügung. Auf Basis solcher Modelle wurden in den letzten Jahren signifikante Fortschritte bei der Entwicklung computer­gestützter Methoden für den integrierten Molekül-Prozess-Entwurf erreicht, zum Beispiel bei Flüssigphase-Reaktionen [1], Absorptions-Desorptions-Prozessen [2] und Flüssig-flüssig-Extraktionen [3]. Auf diese Weise ließ sich die Effizienz der Prozesse erheblich steigern.

Wenn die eingesetzten Hilfsstoffe komplexere Molekül- oder Mikrostrukturen besitzen, wie ionische Flüssigkeiten oder metallorganische Gerüstmaterialien, dann können komplizierte Beziehungen zwischen den Strukturen und den makroskopischen Eigenschaften bestehen. Diese sind mit einfachen Gruppenbeitragsmethoden nur unzureichend zu modellieren. Dank der Verfügbarkeit großer Datenbanken für die Eigenschaften bestimmter Materialklassen und moderner Werkzeuge der künstlichen Intelligenz lassen sich die Struktur-Eigenschafts-Beziehungen heute sehr effizient mit Methoden des maschinellen Lernens (ML) modellieren [4]. 

Unsere Forschungsgruppe hat diesen Ansatz jüngst erfolgreich auf erste Beispielprozesse angewandt, darunter auf einen auf ionischen Flüssigkeiten basierenden CO2-Absorptionsprozess, der deut­lich weniger Energie als der industriell praktizierte Selexol-Prozess benötigt. Als zweites Beispiel wurde ein auf Phasenwechsel­materialien (Phase Change Material, PCM) basierender Prozess zur Speicherung von thermischer Energie mit ionischen Flüssigkeiten untersucht. Für ihn wurde eine um 30 % höhere Wärmespeicherleistung erzielt als bei einem etablierten PCM-Paraffinwachs.

Diese beiden Anwendungen verdeutlichen das große Potenzial des computer­gestützten integrierten Material- und Prozessentwurfs unter Einsatz von Methoden des maschinellen Lernens.

Um Kriterien der Umweltverträglichkeit (Environmental, Health, Safety, EHS) bei der Auswahl von Lösungsmitteln für chemische Produktions­prozesse angemessen zu berück­sichtigen, haben sich neben den modellgestützten Optimierungs­methoden auch systematische Screening­-Verfahren unter Nutzung großer Stoffdatenbanken bewährt. In diesem Zusammenhang haben wir jüngst ein automatisiertes Selektions­verfahren entwickelt, mit dem für das Beispiel der Hydro­formylierung langkettiger Olefine die Substanz Diethylsulfoxid (DESO) als umweltverträglicher Ersatzstoff für das bisher verwendete, entwicklungstoxische Lösungsmittel n,n-Dimethyl­formamid (DMF) identifiziert werden konnte [5]. DESO ist nicht nur ein umweltfreundliches Lösungsmittel für die Hydro­formylierung, sondern auch ein effizienter Hilfsstoff für die Rückgewinnung des bei der Reaktion eingesetzten Rhodium-Katalysators (Abbildung 2).

Literaturhinweise

1.
Zhou, T.; Wang, J.; McBride, K.; Sundmacher, K.
Optimal design of solvents for extractive reaction processes.
AIChE Journal 62, 3238−3249 (2016).
2.
Zhou, T.; Zhou, Y.; Sundmacher, K.
A hybrid stochastic-deterministic optimization approach for integrated solvent and process design.
Chemical Engineering Science 159, 207−216 (2017).
3.
Song, Z.; Zhang, C.; Qi, Z.; Zhou, T.; Sundmacher K.
Computer-aided design of ionic liquids as solvents for extractive desulfurization.
AIChE Journal 64, 1013−1025 (2018).
4.
Zhou, T.; Song, Z.; Sundmacher, K.
Big data creates new opportunities for materials research: A review on methods and applications of machine learning for materials design.
Engineering 5, 1017-1026 (2019).
5.
Linke, S.; McBride, K.; Sundmacher, K.
Systematic green solvent selection for the hydroformylation of long-chain alkenes.
ACS Sustainable Chemistry & Engineering 8, 10795-10811 (2020).

 

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