Nichtlineare Wellenausbreitung bei chemischen Prozessen

Forschungsbericht (importiert) 2003 - Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme

Autoren
Kienle, Achim
Abteilungen
Zusammenfassung
Das dynamische Verhalten vieler chemischer Prozesse ist durch wandernde Temperatur- und Konzentrationsfronten gekennzeichnet. Solche wandernden Fronten werden in der Physik und der angewandten Mathematik auch kurz als nichtlineare Wellen bezeichnet. Diese nichtlinearen Wellen vermitteln ein einfaches Verständnis der in den betrachteten Systemen ablaufenden dynamischen Prozesse und sind daher oft Ausgangspunkt für eine verbesserte Prozesssteuerung oder -regelung sowie die Entwicklung neuer Prozesskonzepte. Aktuelle Untersuchungen am Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg betreffen eine Erweiterung der theoretischen Grundlagen für die wichtige Klasse der kombinierten Reaktions-Separations-Prozesse sowie die Untersuchung neuer Anwendungsmöglichkeiten im Rahmen der modellgestützten Prozessführung.

Das dynamische Verhalten vieler chemischer Prozesse ist durch wandernde Temperatur- und Konzentrationsfronten gekennzeichnet. Solche wandernden Fronten werden in der Physik und der angewandten Mathematik auch kurz als nichtlineare Wellen bezeichnet. Drei typische Beispiele sind in den Abbildungen 1, 2 und 3 dargestellt.

Bei dem Beispiel in Abbildung 1 handelt es sich um einen klassischen Reaktionsprozess, einen so genannten katalytischen Festbettreaktor. Der Reaktor besteht aus einem Rohr das mit katalytisch aktiven Partikeln gefüllt ist. Ein solcher Apparat wird häufig zur Durchführung heterogen katalysierter Gasphasen-Reaktionen verwendet. Im vorliegenden Fall handelt es sich um die katalytische Verbrennung von Ethylen in Luft. Der Reaktor wird vorzugsweise stationär betrieben, dabei wird das Ausgangsgemisch im Zulauf des Reaktors zunächst auf Reaktionsbedingungen vorgewärmt. Wird die Zulaufheizung abgeschaltet, verlischt der Reaktor. Der Übergang von dem gezündeten in den ungezündeten Zustand ist durch eine wandernde Reaktionsfront gekennzeichnet, die sich langsam von links nach rechts durch den Reaktor bewegt. Während der Transienten treten im Inneren des Reaktors
zum Teil erhebliche Übertemperaturen auf, die sich durch Wärme-Akkumulation in der Reaktionszone erklären lassen.

Bei dem Beispiel in Abbildung 2 handelt es sich um einen einfachen Stofftrenn- oder Separations-Prozess. In einer kontinuierlich betriebenen Destillationskolonne wird ein Gemisch aus zwei Alkoholen in seine Bestandteile zerlegt. Der leichter siedende Alkohol Methanol kann in hoher Reinheit am Kopf der Kolonne gewonnen werden, während der schweresiedende Alkohol mit hoher Reinheit am unteren Ende der Kolonne gewonnen werden kann. Die zugehörigen Konzentrationsprofile im Innern der Kolonne in Abbildung 2 zeigen im Gegensatz zu Abbildung 1 bereits im stationären Zustand steile Fronten. Nach einer Erhöhung des Flüssigkeit-Rücklaufs am Kopf der Kolonne verschieben sich die Fronten nach unten zu einem neuen stationären Zustand.

Obwohl das Verhalten in den Abbildungen 1 und 2 ähnlich aussieht sind die physikalischen Ursachen doch völlig verschieden. Im ersten Fall handelt es sich um ein parabolisch dominiertes System, das maßgeblich durch die chemische Reaktion und die Wärmeleitung in der Katalysatorschüttung geprägt ist. Im zweiten Fall handelt es sich um ein hyperbolisch dominiertes System, das maßgeblich durch die Konvektion und den Stoffaustausch zwischen Dampf- und Flüssigphase in der Kolonne geprägt ist. Beide Klassen von Systemen wurden in der Vergangenheit ausführlich untersucht.

Eine dritte Klasse von Systemen, deren dynamisches Verhalten bisher kaum untersucht wurde, sind kombinierte Reaktions-Separations-Prozesse. Ein typisches Beispiel ist der in Abbildung 3 gezeigte Prozess. Dabei handelt es sich ähnlich wie in Abbildung 2 um eine Destillationskolonne. Neben der Stofftrennung dient sie gleichzeitig als Reaktionsapparat. In der flüssigen Phase findet simultan die Umsetzung der Ausgangsstoffe B und C zu Produkten A und E statt. Das leichtersiedende Produkt A kann am Kopf der Kolonne und das schwerersiedende Produkt E am unteren Ende der Kolonne mit hoher Reinheit gewonnen werden. Die Kombination von Stofftrennung und Reaktion ermöglicht oft eine vollständige Umsetzung der zugeführten Reaktanden bei gleichzeitiger Trennung der Produkte. Kombinierte Reaktions-Separations-Prozesse sind daher häufig eine vielversprechende Alternative zu konventionellen Prozessen, bei denen Stofftrennung und Reaktion in getrennten Apparaten durchgeführt werden. Neben der Kombination von Reaktion und Stofftrennung in einer Reaktivdestillationskolonne werden auch alternative Konzepte wie chromatographische Reaktoren und Membranreaktoren am Max-Planck-Institut in Magdeburg untersucht.
Solche Prozesse zeigen oft, aber nicht immer, ausgeprägtes Wellenverhalten ähnlich wie in Abbildung 3. Aus theoretischer wie praktischer Sicht stellt sich somit die Frage, für welche Prozesse unter welchen Bedingungen nichtlineare Wellen auftreten und um welche Wellentypen es sich handelt.

Zur Klärung dieser Fragen wurde ein allgemeines mathematisches Modell für kombinierte Reaktions-Separations entwickelt [1]. Betrachtet wird ein heterogenes Zweiphasensystem mit beliebig vielen Reaktionen in der einen wie der anderen Phase. Spezielle Prozesse, wie beispielsweise die oben angesprochenen Reaktivdestillationskolonnen, chromatographische Reaktoren oder Membranreaktoren, sind als Sonderfälle in dieser allgemeinen Modellformulierung enthalten. Das Modell ist einerseits hinreichend einfach, sodass ein analytischer Zugang möglich ist. Auf der anderen Seite beinhaltet es aber auch die wesentlichen Nichtlinearitäten, die ausschlaggebend für die beobachteten Phänomene sind. Auf der Basis dieses Modells konnte eine relativ allgemeine Theorie für kombinierten Reaktions-Separations-Prozesse mit vernachlässigbarem Stoffaustauschwiderstand und (unendlich) schnellen chemischen Reaktionen entwickelt werden. Der Vergleich mit praktischen Anwendungsbeispielen unterstreicht die Nützlichkeit dieser Theorie. Insbesondere wurde gezeigt, dass sich mithilfe dieser Theorie inhärente Limitierungen kombinierter Reaktions-Separations-Prozesse, die aus der wechselseitigen Kompensation von Reaktion und Stofftrennung resultieren, vorhersagen lassen [1].

Zukünftige Untersuchungen sollen sich mit dem Einfluss einer endlichen Stofftransportkinetik und einer endlichen Reaktionskinetik beschäftigen. Erste Ansätze in diese Richtung finden sich in [4], die sich in ähnlicher Weise auf den stationären Grenzfall der hier betrachteten Prozesse anwenden lassen. In einem nächsten Schritt soll das dynamische Verhalten dieser Prozesse untersucht werden.

Neben den grundlegenden Untersuchungen zur Erweiterung der theoretischen Grundlagen für Reaktions-Separations-Prozesse werden am Max-Planck-Institut in Magdeburg auch neue Anwendungsmöglichkeiten der Wellentheorie untersucht. Nichtlineare Wellen vermitteln ein einfaches Verständnis, der in den betrachteten Systemen ablaufenden dynamischen Prozesse und sind daher oft Ausgangspunkt für eine verbesserte Prozesssteuerung oder -regelung sowie die Entwicklung neuer Prozesskonzepte. Dies soll im folgenden an einem aktuellen Beispiel illustriert werden, das am Max-Planck-Institut in Magdeburg entwickelt wurde. Dabei handelt es sich um ein neues Verfahren zur kontinuierlichen chromatographischen Trennung von Fluidgemischen. Solche Verfahren werden in zunehmendem Maße in der pharmazeutischen Industrie zur Gewinnung hochreiner Wirkstoffe eingesetzt. Sie werden zyklisch getaktet betrieben. Bei konventioneller Betriebsweise wird das Ausgangsgemisch kontinuierlich mit gleichbleibender Zusammensetzung im gesamten Taktintervall zugeführt. Bei der neuen Betriebsweise wird die Zusammensetzung des Ausgangsgemisches im Zulauf zyklisch variiert. Die neue Betriebsweise wurde deshalb ModiCon genannt, was für "modulated feed concentration" steht. Mithilfe der neuen Betriebsweise konnte für einen repräsentativen Beispielprozess die Produktivität um 127 % und der Lösungsmittelverbrauch gleichzeitig um 53 % reduziert werden [8].
Da solche Prozesse in der Regel sehr teuer sind, ist der wirtschaftliche Nutzen durch die neue Betriebsweise erheblich. Das Verfahren wurde deshalb zum Patent angemeldet [9]. Die technische Verbesserung durch Modicon lässt sich auf relativ einfache Weise mithilfe der Wellentheorie verstehen und erklären [7].

Ein anderes Anwendungsgebiet der Wellentheorie ist die nichtlineare Modellreduktion. Hier geht es darum, ein komplizierte Prozessbeschreibung, die sich aus den physikalisch chemischen Grundgesetzen ergibt, erheblich zu vereinfachen. Im Falle der Destillation in Abbildung 2 und der Reaktivdestillation in Abbildung 3 lassen sich mithilfe der Wellentheorie die partiellen Differentialgleichungen, die den örtlichen Verlauf der Konzentration in einer solchen Kolonne beschreiben, auf gewöhnliche Differentialgleichungen reduzieren [5, 6].
Solche reduzierten Modelle sind eine wichtige Grundlage für die Entwicklung neuer modellgestützter Mess- und Regelverfahren [2, 3].

Danksagung
Der Autor bedankt sich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die langjährige finanzielle Unterstützung im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB 412 "Rechnergestützte Modellierung und Simulation zur Analyse, Synthese und Führung verfahrenstechnischer Prozesse". Mein besonderer Dank gilt allen Mitarbeitern, die zu diesen Resultaten beigetragen haben.

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